Fußballwunder gibt es wie Sand am Meer. Das Wunder von Bern, das Champions League Finale 2005, das irre Halbfinale zwischen Dortmund und Malaga oder das unglaubliche 7:1 gegen Brasilien. Doch was ist eigentlich das größte Fußballwunder aller Zeiten?
Dazu muss man zunächst zwischen Einzelspielen und Wettbewerben unterscheiden. Das Wesen das Fußballspiels macht es möglich, dass sogar der größte Underdog ein Spiel gewinnen kann. Die folgenden Zahlen sollen das erläutern. Im Schnitt fielen in der Saison 2013/14 in der Fußballbundesliga 3,16 Tore pro Spiel. In der Handballbundesliga waren es 56,67 und in der Basketballliga NBA wurden 209 Punkte pro Spiel erzielt. Im Tennis müssen für einen Sieg bei einem Grand Slam Turnier mindestens 72 Punkte erzielt werden. Der Wert eines einzelnen Punktes oder Tores ist in anderen Sportarten deutlich geringer und somit ist auch Glücksfaktor deutlich geringer. Denn Tore oder Punkte entstehen eben oftmals durch Zufall. Das heißt nicht, dass jeder Sieg eines Außenseiters im Fußball reines Glück ist, aber durch den hohen Zufallsanteil ist die Siegchance für schwächere Teams generell höher als in anderen Sportarten.
Auf längere Sicht, werden sich allerdings auch im Fußball fast immer die stärkeren Teams durchsetzen. Ein Turniersieg, wie der Gewinn der Europameisterschaft von Griechenland 2004 oder Deutschland 1954, ist gewiss ein größeres Fußballwunder, als sich in ein oder zwei Spielen gegen den Favorit durchzusetzten. Am schwierigsten ist es jedoch, über eine Saison dauerhaft gegen bessere Teams zu bestehen. Daher ist die Meisterschaft des Aufsteigers Kaiserslautern 97/98 definitiv eines der größten Fußballwunder. Damals war der finanzielle Aspekt im Fußball allerdings noch nicht so stark ausgeprägt und Lautern hatte keine schlechte Mannschaft. Sforza kam von Inter Mailand, Schjönberg räumte in der Abwehr auf, Ratinho spielte seine beste Saison und Olaf Marschall hat es irgendwie geschafft 21 Tore zu erzielen. Heutzutage bestimmen Etatsummen und Marktwerte zum großen Teil über sportliches Abschneiden. Natürlich gibt es immer wieder Ausreißer nach oben oder unten, aber im Grunde ist ein Team nur so gut, wie es der finanzielle Rahmen zulässt. Das Erreichen der Europaleague von Freiburg, Augsburg oder Eintracht Frankfurt fällt daher in die Kategorie Fußballwunder, weil man etatmäßig eben deutlich unter den Top 6 der Liga rangierte.
Der Aufstieg in die 1. Bundesliga von Darmstadt 98 ist allerdings noch spektakulärer, weil sie finanziell eigentlich keine Chance hatten. Schon der Aufstieg in die 2. Liga war eine Sensation. Ein Jahr zuvor ist man sportlich aus der 3. Liga abgestiegen und nur durch die Insolvenz von Konkurrent Kickers Offenbach im Profifußball geblieben. In der nächsten Saison folgte, nach einer Relegation, die spannender nicht hätte sein können, der Aufstieg in die 2. Bundesliga. Dafür musste der Kader verstärkt werden. Das tat man, ohne allerdings einen Cent an Ablöse zu bezahlen. Lediglich für Fabian Holland von Hertha BSC wurde eine Leihgebühr fällig. Mit 9,85 Millionen Euro war man kurz nach Ende der Sommertransferperiode zusammen mit Heidenheim, das Team mit dem geringsten Marktwert in der gesamten 2. Liga. (siehe Bild unten)
Alle Experten waren sich einig, Darmstadt 98 ist Abstiegskandidat Nummer 1. Der Klassenerhalt war das oberste Ziel, doch was folgte hatte keiner erwartet. Von Beginn an war man in der oberen Tabellenregion zu finden. Insgesamt war Darmstadt zwei Drittel der Saison unter den ersten drei. Eine 2:1 Niederlage am 30. Spieltag schien die Bundesligaträume jedoch platzen zu lassen. Dass, das 2:1 durch den gegnerischen Keeper in der Nachspielzeit fiel, war bezeichnend. Man rutschte auf Platz 4 und hatte in den folgenden zwei Spielen die unmittelbaren Konkurrenten aus Lautern und Karlsruhe vor der Brust. Mit zwei Siegen rückte man unerwartet wieder auf Platz 2. Der Aufstieg war zum Greifen nah. Nach einer Niederlage in Fürth reichte ein Heimsieg am letzten Spieltag für den sicheren Aufstieg. Gegen St. Pauli, die ihrerseits noch um den Klassenerhalt kämpften wurde es ein zähes Spiel. In der 76. versenkte Tobias Kempe einen Freistoß zum 1:0. Eine Viertelstunde später war der Aufstieg in die Bundesliga perfekt.
Damit vollendete Darmstadt 98 ein modernes Fußballmärchen, eine neue Interpretation der uralten Geschichte eines Außenseiters, der sich gegen scheinbar übermächtige Gegner durchsetzt. Das haben sie nicht nur in Einzelspielen geschafft, sondern über den Verlauf einer ganzen Saison. Aktuell schreit wieder alles nach Abstieg. Bis jetzt hat sich die Mannschaft noch nicht explizit verstärkt. Der aktuelle Marktwert von 13,4 Mio. Euro, beträgt nur etwa ein Zehntel des Ligadurchschnitts von 130 Mio. Euro. Die Mannschaft der Bayern ist mit 586,5 Mio. Euro sogar mehr als vierzig mal so viel wert. (Zahlen laut transfermarkt.de; Stand 08.07.15). Der gesamte Kader von Darmstadt ist nur etwa halb so viel wert, wie ein einziger Bayernspieler. Selbst das Stadion schreit nach Amateurfußball und ist im aktuellen Zustand nicht für die 1. Liga zugelassen. Das Böllenfaltor hat lediglich eine überdachte Tribüne, Schalensitze aus den 80ern, und eine Kabine, in der man froh ist, wenn das warme Wasser funktioniert. Gerade das macht allerdings auch den Charme aus. Unter diesen Vorraussetzungen scheint der Klassenhalt ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Falls Darmstadt 98 es dennoch schafft, wäre es sicherlich wieder ein Fußballwunder.
Mirkchief





